Kurzgeschichte
Autorin: Rosa Pessl
“Sind Sie denn komplett verrückt geworden! Kommen Sie sofort aus der Auslage heraus. Was fällt Ihnen ein, da hineinzuklettern?”, echauffiert sich die Verkäuferin in einem hohen Sopran.
“Ich möchte ein Autogramm von Marlene. Wunderbar, dass ich sie hier treffe.”
“Marlene, wie? Das ist unsere Schaufensterpuppe!”, der Sopran wird um noch eine Oktave höher.
“Hätten Sie ja auch ankündigen können, dass Marlene Dietrich hier eine Autogrammstunde gibt. Ach, verflucht, das Kabel hier.”
“Hääää? Sie haben wohl zu viel Bloody Mary getrunken.” Der Sopran überschlägt sich gleich. In meinen Ohren beginnt es zu singen. Verdammt heiß ist es hier. Ich krame in meiner Tasche. Irgendwas muss ich doch haben, wo Marlene sich verewigen kann. Nicht einmal an Autogrammkarten haben die hier gedacht. Autsch, jetzt habe ich auch noch eine Beule von der blöden Lampe. Ich kann Marlene doch nicht das Parkticket geben, ach verflucht...
“Sie sind gute dreißig Jahre zu spät dran. Kommen Sie jetzt sofort aus der Auslage heraus. Sonst rufe ich den Sicherheitsdienst!” Das war jetzt Mezzosopran. “Was ist denn los Luise, warum schreist du so?”, meldet sich ein sonorer Bass. Keine 60 Sekunden später steht der Bass vor mir. Dreitagebart. Braune Augen. Ein bisschen zu viel von Hugo Boss Eau de Toilette. Huch.
Ich möchte Marlene zum Abschied umarmen. Doch diese flüchtet akrobatisch vor so viel Nähe und schwingt sich wie Tarzan mit der Swarovski Hängeleuchte davon. Während ich ungeschickt auf meinen Knien lande, legt sie eine exzellente Punktlandung in der Mitte des Tisches mit Meißen Porzellan hin. Ich rapple mich auf, versuche dabei vor dem Bass noch eine möglichst gute Figur zu machen. Verlegen ziehe ich an meinem Rock, um das riesige Loch in meiner Strumpfhose zu überdecken, und lächle. Dem Bass stockt der Atem. Ja klar, ich bin auch atemberaubend; ich lächle noch mehr. Welch ein Glück, dass ich mich heute für meinen besten Lippenstift entschieden habe, Farbe Weinrot. Der Bass holt tief Luft, hebt seine Augenbrauen und meint lapidar: “Ich hoffe, Sie haben eine gute Versicherung.” Ich friere mein Lächeln ein, sowas von ungehobelt. “Mitkommen!”, Seine Hand ist auf dem Weg zu meinem Arm. “Fassen Sie mich nicht an!”, kreische ich noch rechtzeitig und stöckle davon. “Stehen bleiben!”, ein großer Bariton versperrt mir breitbeinig, seine Hände in die Hüften gestemmt, den Weg. Ich begleite die beiden Herren in ihr Büro, knalle ihnen meinen Ausweis auf dem Tisch und wähle routiniert die Nummer von Onkel Walter. Mama, meint immer: "Gott sei Dank haben wir einen Versicherungsvertreter in der Familie."
Onkel Walter unterbricht seufzend meine lebhaften Schilderungen über Marlenes Punktlandung. “Wo …”, “Was ist hin?” Ich drücke dem Bass wortlos, aber elegant, mein Handy in die Hand. Lange spricht er mit Onkel Walter über Swarovski-Leuchten und Meißen-Porzellan und so ein Zeug. Dann notiert er sich in schnörkelloser Schrift die Schadensnummer, die ihm Onkel Walter durchgibt. Ich knabbere an meiner Unterlippe, drehe mir mit den Zeigefinger ein paar Locken und verstehe nicht, warum eine Schadensnummer sexyer ist als meine Telefonnummer. Zerknirscht verabschiede ich mich von Bass und Bariton und trotte nachhause.
“Henriiiiette, bist du es?” Ui, Mama klingt nicht gut. Ich schleiche schnell ins Badezimmer und hüpfe in meinem Jumpsuit. Mama darf mich so zerstört nicht sehen.
“Henriiiiette, wir haben einen Brief von einem Anwalt bekommen”, ihre Gesichtsfarbe wechselt von kalkweiß auf feuerrot und zurück.
“Henriiiiiettte ...”
"Ja das bin dann wohl ich."
“Um Gottes Willen! Hast du der B**d-Zeitung ein Interview gegeben?”
“Oh ja Mama, die Geschichte von Uroma und Edvard Munch, das muss doch in die Öffentlichkeit.” Ich verstehe Mamas Entsetzen nicht und fahre fort. “Mama, wir müssen um unser Erbe kämpfen. Weißt du wie viel die Bilder wert sind?” Ich schaue in zwei tellergroße Augen.
“Du wolltest doch immer eine Weltreise machen, oder?”, hake ich nach.
“Henriiiiette, hör mir gut zu: Deine Urgroßmutter, meine Großmutter, sie hatte niemals eine Affäre mit Edvard Munch!”
Wortlos hole ich meine Box mit Beweisen und lege Mama wieder einmal einen nach den anderen vor. Zuerst das Bild, Munchs Meisterwerk “Der Schrei”, in Form einer Postkarte.
“Mama, schau: Das hier ist Uroma! Deine Großmutter.” Mama schlägt sich die Hände vor das Gesicht. Als sie diese wieder entfernt, merke ich die frappierende Ähnlichkeit von Mama und dem Portrait auf der Postkarte. Ich hoffe insgeheim, dass ich meine mimische Ausdruckskraft von Papa geerbt habe. Mit einer sehr betonten Ruhe gesteht Mama: “Den schlimmsten Fehler, den ich in den dreiundzwanzig Jahren, also seit ich dich geboren habe, gemacht habe, ist, dass ich dir jemals erzählt habe, dass deine Uroma Edvard Munch bewunderte und er ihr bei einer Vernissage einmal über den Weg gelaufen ist. Das war alles.” Also echt verblüffend, diese Ähnlichkeit von Mama und Uroma. Mama wedelt sich mit dem Brief, der wohl von besagten Anwalt ist, Luft zu.
“Schau Mama und da dieser Brief”, ich halte ihr den handgeschriebenen, verblichenen Zettel unter die Nase, “ein Liebesbrief, unterzeichnet mit Edvard.”
Mama wedelt immer schneller: “Verflucht, Henriette. Dein Uropa hieß Edvard. Aber nicht Munch, sondern Hagen. Ganz normal Hagen, verstehst du?” Offenbar hadert Mama gerade wieder Mal mit unseren norwegischen Wurzeln. Ich nicke verständnisvoll.
“Henriette, hör mir jetzt gut zu: Wenn du weiterhin öffentlich behauptest, die Urenkelin von Edvard Munch zu sein, müssen wir 5.000,00 Euro an die Stadt Oslo, die Munchs Erbe verwaltet, bezahlen. 5.000,00 Euro, für jede Erwähnung! Das zahlt keine Versicherung!” Mamas Ton ist sehr ernst und aus ihrem Gesicht ist mittlerweile jede Farbe geflüchtet. “5.000,00 Euro!”, betont sie nochmals und klingt dabei ziemlich verzweifelt.
“Logisch Mama, die wollen uns doch nur Angst machen”, versuche ich sie zu beruhigen, was mir nicht sonderlich gelingt.
“Henriette, bitte …”, fleht mich Mama an. Dass ich in zwei Monaten einen Auftritt bei einer Talkshow habe, sage ich Mama jetzt nicht sondern nicke lieber verständnisvoll. Es ist besser für mich und Mama, das Thema jetzt ruhen zu lassen.
“Ach Mama, weißt du, wen ich getroffen habe?”, frage ich beim Essen. Meine Mutter beginnt langsamer zu kauen.
“Bradley Cooper! Ja, Mama Bradley war wieder da.” Ich weiß nicht, warum Mama wieder so schwer atmet. Sie soll doch wieder mal zum Arzt gehen, wegen ihres Asthmas. “Also ich bin auf Bradley zu und hab ihm einen Kuss direkt auf die Lippen gegeben, einen ganz heißen. Aber weißt du was? Da habe ich mich echt getäuscht. Der ist nur blöd dagestanden, erstarrt zur Salzsäule. Dabei war er das letzte Mal, als wir uns getroffen haben, alles andere als schüchtern. Das habe ich ihm auch gesagt.” Mamas Augen sind jetzt fast so groß, wie die Tomatenscheibe, die sie gerade auf der Gabel hat. “Das kann doch nicht sein, dass er unsere Nacht im Bellevue vergessen hat.”
“Und du hast ihn tatsächlich auf offener Straße daran erinnert?”, wollte Mama wissen. Welche komische Frage: “Ja klar. Mmmmhpf die Frau, die ihn begleitete, hat ihn ganz schön unter die Fittiche. Na die hat ihn dann einen Tango gemacht. Ich hab die zwei einfach stehen lassen.” Mama schluckt. Vielleicht sollte ich ihr von meinen amourösen Abenteuern nichts mehr erzählen. Mama ist jetzt doch schon einem Alter, wo die Libido nachlässt und seit sie von Papa getrennt ist ….
“Henriette, nimmst du deine Medikamente?”, werde ich von ihr aus meinen Gedanken gerissen.
Mama steht abrupt auf, stellt mir ein Glas Wasser vor die Nase und daneben meine rosa-weißen Pillen. Es gibt kein Entrinnen, also rein mit der Tablette. Mama beobachtet mich genau. Nach fünfzehn Minuten Ausharren kann ich es mir endlich erlauben, in mein Zimmer zu gehen. Schnell krame ich die Blechdose hervor, wo Mama früher meine Milchzähne aufbewahrt hat. Hundertneunundzwanzig rosa-weiße Pillen… Grinsend gebe ich die hundertdreißigste dazu, die ich während des Essens geschickt in meinem Ärmel verschwinden ließ. Schön, dass Mama mich als Kind zu einem Zauberkurs geschickt hat. Ich kann noch immer Dinge verschwinden lassen.
Am nächsten Tag. Ich bin gerade in der Stadt unterwegs und da ist er wieder: Bradley Cooper. “Hallo Bradley …”, ich winke ihn zu. Das Erstarren zur Salzsäule hat er wohl drauf. Und jetzt? Oh Mann, hat der aber flinke Beine, rennt wie um sein Leben. “Hallo Braaaaadley, warte ….”, ach und das mit den Stöckelschuhen. Oh mein Gott ….
…. Wo bin ich? Was ist das für ein hässliches graues Bettgestell an meinem Fußende? Mein Bein ist von oben bis unten eingegipst und hängt an einer Schlaufe. Über mir ein Trapez mit einer Knopf dran, der mit “Notfall” beschriftet ist. In meinen linken Handrücken steckt eine Kanüle. Die angehängte Infusionsflasche tropft unablässig.
Dann steht er plötzlich neben meinem Bett. “George”, hauche ich. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, bevor er mit ernster Miene verkündet: “Ich bin Dr. Müller. Frau Hagen, Sie sind hier in der Grazer Uniklinik, weil Sie gestürzt sind.” Emergency Room, jetzt in Graz? Und ich darf mitspielen. Oh, aber was ist mein Text? Sie haben mir vorher überhaupt keinen Text geschickt. Das Setting wirkt so echt und tut auch echt weh. Nein, ich stecke in diesem blaßblau-geblümten Kittel, dass mir knapp über den Po reicht. Oh nein, oh nein! Ne, also wirklich... Was ist jetzt mit dem Text? ... Okay, kein Text. Ich versuche es mal mit Augenklimpern. Verflucht, die haben sicher die Mascara vergessen. Also noch mehr Klimpern. Abermals huscht dem Doktor ein Lächeln übers Gesicht, doch dann wird er wieder so verflucht ernst. “Frau Hagen, Sie haben Schizophrenie.” Ach so, deswegen gipst man bei Emergency Room das Bein ein. Ich glaube es ihm und setze noch mein schönstes Lächeln auf. “Sie müssen ihre Medikamente nehmen.” Dann lässt er mich liegen, hier in meinem Bett. Von dem Geklimpere kommen mir doch glatt die Tränen. Verflixt! Ich rufe ihm nach: “Aber Sie wären sicher gerne auch ein George Clooney, oder?”
Was denkst du?